Am Morgen vom 24. Mai 2008 habe ich erstmals von der Existenz des ESCs erfahren. Bereits unaufgeregte Erklärungen haben mich völlig begeistert. Am gleichen Abend sah ich mir das ESC-Finale mit meiner Familie an. Ich war 7 Jahre alt. Der Auftritt Russlands am Ende des Abends, mit der Startnummer 24, hat mich so begeistert, dass es mein ganz klarer Sieger war. Am meisten war das Kind vom Eiskunstläufer fasziniert, aber auch der übrige Teil des Auftritts hat für große Begeisterungen gesorgt. Hinzu kommt das herausragende Lied. Zwar habe ich erst am nächsten Morgen erfahren dass Russland gewonnen hat, weil ich vor der Punktevergabe schlafen gehen musste, aber dieser Auftritt und dieses Lied haben einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen und rühren mich auch Heute noch zu Tränen. Die Leute können über den Kitsch dieses Auftritts sagen was sie wollen und Russland kann ein noch so problematisches Land (beim ESC) sein, das ändert nichts daran, wie dankbar ich Russland für diesen - meinen - ersten ESC-Sieger bin. Damit fing dieser riesengroße Teil meines Lebens an - meine Eurovision Passion.
In diesem 10-Jahre-ESC-Fan-Ranking, geht es aber nur um die Jahre, in denen ich als Hardcore-ESC-Fan, quasi alles was in der ESC-Bubble passiert, verfolge. Deshalb ist "Believe" raus. Russland ist ein ESC-Land, dessen Beiträge für mich unweigerlich immer einen Beigeschmack haben. Wenn Russland am ESC teilnimmt, schicken sie keinen Beitrag, von dem sie nicht glauben dass er realistische Chancen hat zu gewinnen (ignorieren wir 2018) - und das ist eine Bereicherung für den ESC. Was aus Russland kommt ist immer stark. Aber es ist auch immer dieser unbedingte Wille gewinnen zu wollen erkennbar; Der Versuch die Triggerboxen zu treffen, die den Sieg bringen, das unglaublich viele Geld das dahinter steht, die Perfektion in der Produktion. Dadurch wirken russische ESC-Beiträge auf mich oft zu künstlich, als dass ich sie ganz vorne an der Spitze sehe. Und vielen anderen geht es auch so. Im Zeitraum der letzten 10 Jahre ist Russland beim ESC zusätzlich mehr durch politische Aktionen, als durch anderes aufgefallen. Deshalb stellt sich für mich bei russischen Beiträgen immer die Frage, wie sehr ich darüber hinwegsehen kann, dass auf diesem Beitrag "Russland" steht.
Platzierung als Nation in meinen Rankings: 21. (11./36./17.)
Beste Platzierung in meinen Jahresrankings: 3. (2021)
Niedrigste Platzierung in meinen Jahresrankings: 42. (2018)
Teilnahmen 2014-2024: 6
Bestes Ergebnis beim ESC: 2. mit 303 Punkten 2015
Niedrigstes Ergebnis beim ESC: 15. im Semi mit 65 Punkten 2018
Mein 1. Platz Russlands geht an einen Beitrag der untypischer nicht sein könnte für dieses ESC-Land. 2021 gewann Manizha etwas überraschend die russische Vorauswahl mit der queerfeministischen Revolutionshymne "Russian Woman". Überraschend nicht weil es musikalisch nicht gut genug gewesen sei, sondern weil des kaum denkbar war, dass die russische Führung so einen Landesbeitrag beim ESC zulässt. Außerdem war es interessant, dass sich das russische Volk nicht für den vorgegebenen Favoriten, sondern für diesen politisch speziellen Beitrag entschieden hat. Ich habe nach dieser Entscheidung eine große Siegeschance für Russland beim ESC gesehen. Mir ist keine Rap-Gospel-Nummer bekannt, die mit der musikalischen Power dieses Auftritts auch nur ansatzweise mithalten kann. Die Umsetzung auf der ESC-Bühne ist großartig! Ich habe es für realistisch gehalten, dass dieser ESC-Auftritt eine russische Revolution auslösen könnte - es wäre nicht der erste ESC-Beitrag gewesen, der den Startschuss einer Revolution bildet - und wie wir wissen ist dafür auch kein gutes Ergebnis beim ESC von Nöten. Dieser besondere Auftritt hat 2021 meine persönliche Bronzemedaille erhalten, hinter Bulgarien und Rumänien. Nun kommt der erste Platz russlands der letzten 10 Jahre dazu.
"You are the only One" von Sergey Lazarev ist der Beitrag Russlands, der den Charakter dieses ESC-Landes am eindrucksvollsten zeigt. Ich glaube dass kein ESC-Beitrag der Geschichte so teuer war wie dieser. Das Geld hat sich gelohnt. Der Auftritt ist nichts geringeres als Showgeschichte. Der Song ist zwar gängiger Pop, aber die Komposition letztlich so stark, dass sie 2016 die anderen Teilnehmenden in ihren Schatten gestellt hat. Würde das alles nicht so gekünstelt und zu sehr gewollt wirken, wäre das ganz klar mein 1. Platz, aber dann geht es beim ESC doch irgendwie um mehr als das, was dieser Beitrag mitbringt. Am Ende ist Musik dann doch Kunst und die lebt von etwas, das sich nicht kaufen lässt. Wie ironisch, dass ausgerechnet in diesem Jahr die Ukraine gewann, mit einem Song dessen politische Botschaft an Russland nicht abzustreiten ist... Es war der Anfang vom (vorübergehenden?) Ende Russlands beim ESC.
Mit den Tolmachevy Zwillingen hat Russland das Phänomen der Zwillings-Performances beim ESC auf die Spitze getrieben - und ich liebe es! Für solche Dinge lieben wir doch den ESC. Dort kann man das machen, was anderswo nicht möglich wäre. Auch die Entscheidung, dafür den, beim ESC viel zu oft verwendeten, Songtitel "Shine" zu wählen - es ist alles so übertrieben ESC an diesem Beitrag! Herrlich! Wie oft ich in den letzten 10 Jahren diese Performance schon "getanzt" habe, wie oft ich mir diesen Ohrwurm, den ich sehr gerne habe, angehört habe. Alles an diesem Beitrag ist etwas komisch, aber das macht dessen Faszination für mich aus. Ja, es ist das Jahr, kurz nach russlands Annektion der Krim. Ich kann nicht völlig darüber hinweg sehen, dass es sich hierbei um Russland handelt, aber dieser übersteigerte Zwillings-Kitsch fasziniert mich seit nunmehr über 10 Jahren. Warum ich damals dafür nur Platz 20 übrig hatte ist mir Heute ein Rätsel.
Obwohl "Scream" eine dramatische Ballade ist, ploppt dessen Songmelodie immer wieder mal in meinem Kopf auf. Die Melodie ist wirklich gut, wie vieles anderes an diesem gelungenen ESC-Auftritt. An Sergeys ersten Beitrag von 2016 kommt das aber bei Weitem nicht heran.
Seitdem sich Polina Gagarina wiederholt bereitwillig als Unterstützerin Putins Kriegspolitik und -propaganda zeigt, hat die Friedenshymne "A million Voices" von 2015 einen großen Teil seines Appeals für mich verloren. Auch damals war es bereits kontrovers, dass Russland mit so etwas auftritt, während Russland die Krim angreift, aber Polinas Auftreten war so authentisch, dass ich ihr den Wunsch nach Frieden vollständig abgekauft habe. Auftritte bei Militärparaden passen allerdings weniger gut in dieses Bild. Die Komposition an sich bleibt dennoch stark.
Die nicht ernst gemeinte Protest-Teilnahme Russlands 2018 brauchen wir hier nicht weiter thematisieren.
2021 war die bislang letzte Teilnahme Russlands. Politische Spielchen des nationalen Rundfunks und der Angriffskrieg auf die Ukraine verhinderten weitere Teilnahmen. Ob oder wann Russland künftig wieder dabei ist, lässt sich derzeit nicht voraussagen. Fest steht auf jeden Fall dass Russland auf verschiedene Weisen beim ESC wieder für Aufmerksamkeit sorgen würde.
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