Hätte mir jemand vor einem halben Jahr erzählt, dass eine nicht binäre Person mit einem Song über das Nicht-binär-sein den Eurovision Song Contest gewinnt, ich hätte wahrscheinlich herzlich gelacht und erwidert dass das vielleicht in meinen schönsten Träumen passiert, für die echte Welt in der wir leben aber viel zu unrealistisch ist. In dieser Nacht haben Nemo Mettler, Benjamin Alasu, Lasse Midtsian Nymann und Linda Dale mit "The Code" den 68. Eurovision Song Contest 2024 für die Schweiz gewonnen. Nein, nicht nur für die Schweiz, vielleicht noch mehr als das für Menschen die so sind wie Nemo, Bambie Thug und ich. Heute Nacht hat sich Europa verändert. Mit dieser Nacht leben wir in einem anderen Europa. Mit dieser Nacht, und allem was darauf folgen wird, ändert sich vieles für uns nicht binäre Menschen. Da bin ich mir sicher. Weil diese Nacht für mich - und viele andere - so bedeutsam ist, möchte ich hier meine Gedanken festhalten, für mich und für das Internet zum Nachlesen - auch in der weiter entfernten Zukunft.
Das hier sind meine Gedanken, die ich in dieser Nacht zu diesem großen Ereignis habe. Sie sind nicht gut sortiert und dieser Text nicht umfangreich ausgearbeitet. Ich möchte aber - so kurz wie es mir möglich ist - beschreiben was mir der Sieg von Nemo bedeutet und was ich denke, wie sich Europa dadurch für uns nicht binäre Menschen verändert. Dafür möchte ich ein super kurzen Blick darauf werfen, was es bedeutet in dieser Gesellschaft zu leben und Nicht eindeutig Frau oder Mann zu sein.
Seit fünf Jahren setze ich mich an der Universität mit Geschlecht auseinander. Immernoch bin ich weit davon entfernt zu verstehen was Geschlecht genau ist und wie Geschlecht sein kann. Auch habe ich (noch?) keine Worte für meine eigene Geschlechtlichkeit gefunden. Deshalb muss die Sammelkategorie "nicht binär" dafür herhalten. Sie drückt aus dass sich eine Geschlechtlichkeit nicht im Code der Nullen und Einsen, "der zwei Geschlechter" befindet. Ich habe das große Privileg mich jahrelang im Studium mit Geschlechtlichkeit auseinanderzusetzen und kann trotzdem nicht sagen ob oder was für ein Geschlecht ich habe. Derweil muss ich mich immerzu dafür rechtfertigen dass ich so bin wie ich bin und bekomme jeden Tag von der Gesellschaft gezeigt dass ich mit meinem Geschlecht ein Störfaktor bin, der für Probleme sorgt und besser einfach nicht da wäre. Wenn das Leben mit diesem Geschlecht bereits für mich in dieser Position so schwierig ist, wie muss es dann erst für andere sein? Für all diejenigen, die noch nicht einmal davon gehört haben, dass nicht alle Menschen auf dieser Welt Frau oder Mann sein müssen?
Ich denke diese Nacht an all die jungen Menschen in ganz Europa und der Welt, die im Schlafanzug auf dem Sofa mit ihren Eltern den ESC gucken, die über sich merken dass das mit dem Junge-sein, oder mit dem Mädchen-sein nicht passt, an die, die (wie ich) nicht verstehen was alle anderen an Geschlecht so wichtig finden und warum sie Menschen in diese zwei Kategorien teilen. Ich denke an all die Leute da draußen die mit Nemo eine Person mit Männerkörper sehen, die einen Rock und Strumpfhose trägt und Glitzersteine im Gesicht hat. Eine Person die mit einer völligen Selbstverständlichkeit in solcher Kleidung einen powervollen Rap und Operngesang in höchsten Tönen auf die Bühne legt - und damit von Europa (und Bamies Heiligenschein) zum Sieg gekrönt wird. Ich denke an diejenigen, die dadurch mit einer völlig neuen Welt in Berührung kommen, einer Welt die sie nicht für möglich gehalten haben und in der sie spüren dass sie sich darin frei und sicher fühlen. Eine Welt die von Europa mit einem Punkteregen überschüttet und gefeiert wird. Eine Welt die in ihrer echten Lebenswelt verboten ist. Denn wer ein "Junge" ist darf keinen Rock tragen.
Nicht binäre Menschen finden in unserer Gesellschaft und der Popkultur nicht statt. Wir sind da, ohne dass wir in der Gesellschaft existieren, Die meisten Leute wissen nicht wer wir sind, verstehen nicht wer wir sind oder wissen noch nicht einmal dass wir sind. Das hat sich heute Nacht geändert. So viele Menschen sind gerade das erste mal in ihrem Leben wissentlich mit Nicht-binarität in Berührung gekommen. Leute erfahren, dass wir existieren und lernen über uns. Selbst wenn es beim einmal hören und einem Bemerken der Problematik um Pronomen bleibt, das verbessert unsere Lebenslage in dieser Gesellschaft enorm. Heute Nacht habe ich zum ersten Mal in meinem Leben dass Gefühl dass wir "im großen Stil" in dieser Gesellschaft stattfinden. Wir haben heute Nacht ein Stück weit Existenz gewonnen. Das ist so viel größer als ein ESC-Sieg!
Nachdem Conchita Wurst vor genau zehn Jahren den ESC gewann hat, hat sich so viel in der Queerpolitik europäischer Länder verändert. Und noch viel mehr hat sich in den Köpfen der Menschen verändert. Leute haben sich erstmals mit etwas auseinandergesetzt, was ihnen bislang fremd und unverständlich war. Sie haben Verständnis, Akzeptanz und Toleranz entwickelt. Europa hat sich durch den ESC-Sieg von Conchita Wurst für queere Menschen verändert. Das kann keine Person ernsthaft leugnen, die sich intensiver damit auseinandergesetzt hat. Ich glaube durch den ESC-Sieg von Nemo wird das auch passieren - anders. Schon in den letzten Tagen sorgte ein offener Brief zur Anerkennung von nicht binären und anderen Personen in der Schweiz - geknüpft an Nemos ESC-Teilnahme - für Aufsehen. Nemo erzählt in der Pressekonferenz nach dem Sieg von einem Gespräch darüber mit einem der sieben schweizer Präsident*innen (ja, die Schweiz hat sieben gleichwertige Präsident*innen). Und das ist erst der Anfang. Auch wenn bei mir in Deutschland vor wenigen Wochen das "Selbstbestimmungsgesetz" beschlossen wurde, ist der Staat noch weit davon entfernt die Geschlechtlichkeit von mir und vielen anderen anzuerkennen. Diese Anerkennung ist zudem nur ein erster Schritt für vieles weitere was es für ein gleichberechtigtes, chancengleiches und vor allem schmerzfreies Leben braucht.
Diesen Kurzfilm über den ESC-Sieg von Conchita Wurst habe ich mir schon oft angeschaut. Er zeigt realistisch was es für viele Menschen bedeutet in dieser Gesellschaft zu leben und queer zu sein und welchen großen Einfluss Conchitas ESC-Sieg teilweilse darauf hat. Der ESC-Sieg von Nemo bedeutet aus meiner Perspektive als nicht binäre Person (hoffentlich) noch viel mehr Veränderung und Fortschritt, als der von Conchita. Deshalb hat sich Europa heute Nacht verändert. Es ist für mich nun ein anderes Europa. Ein Europa in dem wir zu mindest ein bisschen stattfinden. Ein Europa in dem Leute wissen wer wir sind. Ein Europa in dem wir ernst genommen werden. Denn nicht binäre Menschen, das sind in den Augen "der Gesellschaft" nicht mehr Teenanger die sich auf Twitter outen, ein Selfie mit einem schlecht geschminkten männlichen Gesicht posten und belächelt werden, mit Worten wie "das vergeht auch wieder". Nicht binäre Menschen, das sind nun Leute, die den Eurovision Song Contest mit einer phänomenalen Komposition und Performance ganz seriös gewinnen und von Europa dafür gefeiert werden. Vielleicht leben wir irgendwann mal in einer Gesellschaft, in der es keine Probleme darstellt und nichts aufsehenerregendes ist, nicht binär oder wie auch immer zu sein. Mit dieser Nacht ist Europa dieser Wunschvorstellung einen riesigen Schritt näher gekommen. Durch Nemos Sieg beschleunigt sich unser Prozess, dass Leute von uns erfahren und wir problemlos frei leben können - auch schon im Kindesalter - enorm. Ich bin Europa so dankbar dafür! Ich denke, diese Nacht ist eine der gößten Nächte meines Lebens, an die ich immerzu zurückdenken werde, denn diese Nacht hat nicht nur viele Herzen von Menschen im Schlafanzug auf dem Sofa zum glitzern gebracht. Diese Nacht hat Europa verändert. Weil Europa sich verändern will.
In diesem hervorragenden Interview vom schweizer Fernsehen erzählt Nemo viel erkenntnisreiches über sich und die eigene Nicht-binarität. Das macht auch den Song "The Code" und andere Musik von Nemo verständlicher.
Auch die Pressekonferenz nach Nemos Sieg ist sehenswert:
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen