Mittwoch, 6. Dezember 2017

"Kinky Boots" Das Musical - Eine Glückspille mit Tiefgang

"Ich will nicht aussehen wie eine transsilvanische ESC-Kandidatin!" SO Lolas Reaktion darauf dass sie Schuhe in BORDEAUX tragen soll. Das erinnerte mich gestern, als ich die erste reguläre Vorstellung von "Kinky Boots" in Hamburg, das am Sonntag Deutschlandpremiere feierte, sah, an den ESC-Beitrag von Rumänien 2013. Ob Lola (Gino Emnes) dabei auch an den Vampir Cezar dachte weiß ich nicht. Ich war aber beeindruckt wie sehr der ESC sich überall ausbreitet und sogar in den Text von einem Musical aufgenommen wird. In diesem Moment habe ich entschieden, dass ich nicht anders kann, als hier von dem Musical zu berichten.


Ich habe nur zufällig eine Karte für das Musical erhalten und hatte eigentlich gar nicht vor es zu sehen. Andere Musicals erschienen mir als deutlich sehenswerter, trotzdem nehme ich das Angebot einer kostenlosen Karte für ein Musical selbstverständlich mit. Damit dass für diesen Abend noch ein weiterer, viel größerer Zufall auf mich wartete hätte ich nicht gerechnet. Doch alles der Reihe nach. Zum Verständnis dieses Textes gibt es hier eine kleine Inhaltsangebe:

Der unauffällige Mitläufer Charlie Price übernimmt von seinem kürzlich verstorbenen Vater Widerwillens die Schuhfabrik "Price and Son", welche kurz vor den Ruinen steht. Völlig überfordert wird er den Anforderungen nicht gerecht, bis ihn die Drag-Queen Lola, die Angestellte Lauren (Jeannine Wacker) und ein Streitgespräch mit seiner Verlobten Nicola (Franziska Schuster) auf die Idee bringen nicht mehr "eine gewisse Palette Schuhe für Männer", sondern "eine gewisse Palette Schuhe für eine gewisse Palette von Männern" herzustellen. Durch das bisher unentdeckte Talent von Lola zur Designerin entsteht die Kollektion "Kinky Boots". Damit diese Abnehmer findet möchte Charlie sie auf der bedeutungsvollsten Schuhmesse der Welt in Milan präsentieren. Doch hier tauchen nach und nach immer mehr Probleme auf, die die Schuhfabrik in den Abgrund treiben wollen. Klingt langweilig? Dachte ich auch - bis ich das Musical gesehen, nein erlebt habe...

Wer soll auf diesen Schuhen nur laufen?

Dieses Musical ist nicht für jeden geeignet. Es ist anders als das was man sich im ersten Moment vorstellt, wenn man an ein Musical denkt. In diesem Musical wird kein Blatt vor den Mund genommen. Anstand, Normalität und Schamgefühl haben hier keinen Platz. Es ist ein Musical bei dem im Publikum eine Stimmung entsteht, die schwer zu beschreiben ist. Ich würde sagen eine Mischung aus dem was dabei raus kommt wenn eine Travestieshow mit poppigen und mitreißenden Songs (von 80er Jahre-Legende Cyndi Laupner) auf der Reeperbahn, mitten im Herz des Hamburger Rotlicht Viertels, in ein professionelles Musical gepackt wird. In der Presse hat sich der Begriff "Glückspille" breit gemacht, was ich zunächst skeptisch annahm, ich muss aber sagen dass "Glückspille" eine Untertreibung ist! Es ist eher eine Glücksbombe! Wer aus diesem Musical rausgeht und nicht ein riesiges Strahlen im Gesicht hat, muss wohl in der schlimmsten Phase des Lebens stecken! Ein kleines abgebrochenes Stück dieser Glückspille findet man hier, hier, hier, hier und hier unter diesen Links, die einen Vorgeschmack davon geben, was einen erwartet.

Lola mit ihren Angels

Es ist ein Musical bei dem das Publikum schon mal mittendrin aufsteht, einfach nur um mitzutanzen, ein Musical bei dem das Publikum in eine Laune gebracht wird, dass es wie Teenies, die ihr Idol treffen, bei jeder Pose einer Modenshow im Musical schreit, ein Musical bei dem schon mal unzählig viele Zugaben gespielt werden, weil das Publikum einfach nicht aufhören möchte zu jubeln, ein Musical dessen Spielzeit um bestimmt über 10 Minuten verlängert wird, weil das Publikum ständig dazwischen applaudiert, weil es schon fast im Sekundentakt unbeschreiblich unterhaltsame Höhepunkte gibt. Dieses Musical besteht nur aus Höhepunkten!


Dabei ist Cezar nicht die einzige Verbindung zwischen dem Musical und dem Eurovision Song Contest. Die Fließbänder der Schuhfabrik sind von Anfang bis Ende im Musical präsent und sind auch beeindruckend gut in die Choreographien involviert. Robin Begtsson (Schweden 2017) kann da mit seinen Laufbändern von Stockholm und Kiew nicht ansatzweise mithalten... Eines der Kostüme im Finale (meiner Meinung nach übrigens das perfekt-schrillste im gesamten Musical) erinnert mich doch sehr an "Flying the Flag" (Großbritannien und Nordirland 2007), genauso tun dies sämtliche Kostüme an (Großbritannien und Nordirland) 2015. Ganz zu schweigen davon dass Conchita Wurst (Österreich 2014) perfekt in dieses Musical passen würde. Nicht zu vergessen die stark mit dem ESC verbundene Olivia Jones, die sich wohl mehr darüber freut dass dieses Musical bei ihr nebenan läuft, als jeder andere. Sie durfte bei den Proben vorbei schauen und war selbstverständlich bei der Premiere im Musical anwesend.

Der Kanarienvogel Olivia Jones fällt in diesem Musical gar nicht mehr auf

Was mich am meisten beeindruckt hat, sind nicht die Schuhe, von denen ich viele unglaublich gerne haben will, nicht dass Männer es schaffen auf diesen Schuhen äußerst anspruchsvolle Choreographien zu tanzen, nicht was dieses Musical mit den Leuten macht, die es sehen, nicht der großartige Cast, der für dieses Musical perfekt geeignet ist, nicht die Kostüme, oder das Bühnenbild, sondern wie neben dieser Travestieshow Szenen mit Gänsehaut und so viel Tiefgang bestehen, ohne dass es aufgesetzt wirkt. Ich habe noch kein Musical gesehen, bei dem die Story auch nur ansatzweise so viel Aussagekraft hat, wie bei diesem! In manchen Szenen haben sich meine Gedanken überschlagen und ich konnte dem Spiel kaum folgen, weil so viel Mehrwert darin steckt. Andere Musicals haben als Aussage irgendeinen Satz, den jeder schon zigmal gehört hat, doch Kinky Boots, was vor nur 70 Jahren noch ein provokanter Skandal gewesen wäre, wirft heute ganz ernst aus einem neuen Blickwinkel gleich mehrere der größten sozialen Probleme der Menschheit auf und zeigt uns mit einem ungewöhnlichen Ansatz den richtigen Weg mit diesen Problemen umzugehen. Der philosophische und Ethische Wert dieses Musicals übersteigt meine Fähigkeiten der Wortgewandtheit, sodass ich sie nicht im einzelnen darstellen kann.

Links das "Flying the Flag" Kostüm - übrigens auf diesem Bild sind nur Männer

Kommen wir zu den Zufall den ich noch erleben durfte. Als ich im Saal des Stage Operettenhauses saß, habe ich ein paar Reihen vor mir jemanden entdeckt, den ich vor über zwei Jahren durch das Internet kennen gelernt habe und seitdem nie dazu gekommen bin ihn zu treffen. Wir haben schon überlegt, ob wir gemeinsam in ein Musical gehen, nun haben wir dies irgendwie indirekt getan. Ihn im Real life zu erleben und dazu "Kinky Boots" zu sehen hat mich in meiner Persönlichkeitsfindung ein großes Stück weiter gebracht und mir den nötigen Mut zurückgegeben. Dieses Musical kam für mich persönlich zum perfekten Zeitpunkt. Ein paar Tipps noch für diejenigen, die nun vor haben "Kinky Boots" zu sehen; anders als bei anderen Musicals verliert sich der "Effekt" des Stückes nicht, wenn man "schlechtere" Plätze hat. Ganz im Gegenteil, mitten im Publikum bekommt man noch viel mehr von der Stimmung mit und kann sie besser aufsaugen. Ein Platz auf dem Rang/Balkon ist, wie ein Platz in der ersten Reihe, hingegen überhaupt nicht zu empfehlen. Bei der Garderobe sollte man seiner Kreativität keine Grenzen setzen. Je auffälliger und außergewöhnlicher, desto unauffälliger wirkt man an diesem Ort. Besonders was die Schuhe betrifft gibt es nicht wenig (männliche) Gäste, die besonders ausgefallene Kinky Boots tragen. Mit einem von ihnen hatte ich auf der anschließenden Bahnfahrt zufällig noch ein schönes Gespräch.

Wer es sich nicht entgehen lässt dieses einzigartige Lebensgefühl von "Kinky Boots" erleben zu dürfen, wird eine unvergessliche Glückspille schlucken dürfen. Jeder der dieses Musical sieht wird sich aber auch anschließend Gedanken um das eigene Leben, sein Handeln und die Lebenseinstellung machen und ich bin mir sicher, dass alle dies auch ändern werden, ohne sich zu verändern, denn wie Lola schon Oscar Wilde zitiert, rezitiere ich nun sie: "Sei du selbst. Alle anderen sind schon vergeben"

Rumänien 2013 - It's my life - Cezar

Schweden 2017 - Can't go on - Robin Begtsson

Großbritannien und Nordirland 2007 - Flying the Flag -Scooch

Großbritannien und Nordirland 2007 - Still in Love with you - Electro Velvet

Österreich 2014 - Rise like a Phoenix - Conchita Wurst

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